Program Text (2005)
James Joyces' Ulysses – Roman eines Tages, Roman einer Stadt – steht im Zentrum dieses Projekts, genauer: der Kommentar zu Ulysses, der im Jahr 2004 anlässlich des 100. Jahrestags des “Bloomsday" erstmals in deutscher Sprache erschienen ist. An Umfang dem Roman nahezu gleich, umgibt dieser Kommentartext wie eine eng anliegende zweite Haut den Korpus des vielleicht rätselhaftesten Werks der Weltliteratur – erklärt Zusammenhänge, deckt auf, was an Bezügen verborgen, macht sichtbar, was an Hintergründen unsichtbar war und markiert, was un(er)klärbar bleiben muss.
Als Sekundärtext versucht er, die hermetische Oberfläche des Romans zu durchbrechen, indem er Verbindungen zur geistigen und realen Umwelt dieses Buches (und seines Autors) offen legt – als Primärtext bleibt er dabei selbst hermetisch: eine Mauer scheinbar unzusammenhängender Informationseinheiten, die der Logik des Klärungsbedarfs folgen, ohne eine eigene kommunikative Logik zu entwickeln.
Der Kommentar ist unabschließbar; er schreibt sich fort, führt ein Eigenleben, wuchert ins gedanklich Kleine und Große, sucht und findet die abwegigen Orte des Wissens; der Kommentar wächst und umfaßt schließlich Tage, Städte, ganze Welten.
Im Rahmen von radikal lokal haben wir neun KünstlerInnen eingeladen, sich in ihrem jeweiligen Medium mit den verzweigten Welten des Ulysses-Kommentars auseinanderzusetzen: Julius Deutschbauer und Gerhard Spring, in deren seit 1997 heranwachsenden “Bibliothek ungelesener Bücher" der Ulysses – nach Musils Der Mann ohne Eigenschaften und der Bibel – an dritter Stelle rangiert; den Autor, Regisseur und Joyce-Kenner Kurt Palm; die Videokünstlerin Michaela Grill; den Musiker und Komponist Martin Siewert; den ex.filmemacher Jack Hauser; den Stimmperformer und Multimediakünstler Dietmar Bruckmayr; den Musiker und Turntablist dieb13 sowie den Autor, Künstler und Privatgelehrten Alfred Stohl. Sie alle präsentieren am Samstag, den 4. Juni zeitgleich um 19.00 Uhr an sieben Orten in Wien ihre Auseinandersetzungen mit dem Ulysses-Kommentar.
Wer wo anzutreffen sein wird, bleibt offen. “Radikal lokal”– so unsere Lesart des Themas der “Factory Season 2005" – ist zuallererst unsere Wahrnehmung: Noch wurde bzw. hat kein Mensch an zwei Orten gleichzeitig gesehen.
Gleichzeitig mit den künstlerischen Arbeiten des Projekts entstand die Aufnahme einer “erweiterten Lesung des reduzierten Kommentartexts.” Alfred Stohl hat sich in die schier unüberschaubaren Textmassen des Kommentars begeben – stundenlang laut lesend, bisweilen den Kommentar kommentierend, dem Rhythmus der polyhistorischen Bausteine folgend, an stimmliche und konzentrationsmäßige Grenzen stoßend. Die dabei entstandene mp3-CD verbindet die sieben Projekte von Maurische Mauern.
Berno Odo Polzer & Thomas Schäfer